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Dear Life. Hello.

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Ich, die Eigenartige

1/9/2019

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Weiß man ja, dass es in jeder Schulklasse einen Sonderling gibt. Wenigstens einen oder eine. Ich hielt mich nicht dafür. Ich glaubte, durch Bestleistung ins System zu passen, wodurch ich mir ein Mindestmaß an Sicherheit erkaufte. Aber ganz angepasst habe ich mich dann doch auch wieder nicht. Ich stritt oft mit den Professorinnen und Professoren, wenn mir etwas ungerecht erschien, ich ließ mir nichts weismachen, was ich nicht verstehen konnte, und kämpfte gegen alles, was mir missfiel. Ein bisschen Hermine. Ich wuchs recht ungemütlich durch meine frühen Jugendjahre, mit roter Brille und widerspenstigem Stil. Mit viel Unsicherheit und viel Unwohlsein. Mit meiner Wut auf ein einengendes System, mit meiner Scheu vor anderen Menschen, mit meinem Gefühl, nicht wie die Anderen zu sein, und vor allem mit der Verzweiflung über meinen eigenen Körper, der immer fülliger wurde und schneller wuchs als mein kindliches Ich. Die stattfindenden Veränderungen überrumpelten mich, und es fehlte mir an Werkzeug und Wissen, damit umzugehen. Ich war mir selbst im Weg. Einzig die Vorstellung davon, eines Tages komplett anders auszusehen, komplett anders zu sein, ließ mich nach vorne blicken, statt nur zu Boden. Mein Spiegelbild habe ich mit Nichtachtung gestraft und kann es rückblickend nicht mehr wirklich ausmachen. Tief in der Erinnerung vergraben. Auch in der Fotokiste. Alle Fotos von damals sind ganz weit unten versteckt und wurden nie mehr angeschaut. Bis vor einigen Tagen – im Beisein all meiner Schulkolleginnen und Schulkollegen: beim Klassentreffen, wo ich auf die gefürchtete Vergangenheit traf, meine eigene Jugend. 
    Mit einem Sektglas in der Hand, umgeben von inzwischen erwachsenen Menschen, die einst neben mir hinter Schulbänken gesessen hatten und dieselben Bücher lesen mussten wie ich, saß ich nun an einem Tisch in der Restaurantkantine eines Sportklubs, wo das Treffen stattfand. Durch eine Glasscheibe konnte man Menschen in sportlich kurzen Hosen beim Tennisspielen beobachten, während man ein Schnitzel aß und auf einer Leinwand alte Fotos und Videoausschnitte gezeigt wurden. Ein Teil in mir wünschte, dass gleich die Hausübungen verkündet und wir mit dem schrillen Klingeln der Schulglocke entlassen werden würden. Mir war flau im Magen. Die Bilder auf der Leinwand riefen all meine jugendlichen Gefühle in mir wach. Einerseits. Und andererseits erschreckten sie mich: alle, wirklich nahezu alle meine Mitschülerinnen und Mitschüler schienen mir exakt Dieselben geblieben zu sein. Ein wenig älter als damals, ja. Die Haare ein bisschen kürzer oder länger, die Kleidung etwas teurer, die Stimmen etwas gesetzter. Aber im Grunde waren sie doch alle genau so wie damals. Nur hatte inzwischen jede und jeder einen Durchschnitt von zwei Kindern zuhause, eine Ehe und ein Haus. Das Familienleben war allerdings nicht das Erschreckende, sondern das zu Erwartende. Das Erschreckende war der Gedanke, dass ich dann wohl oder übel auch immer noch die Gleiche sein musste wie damals mit ungelenken Fünfzehn oder verzweifelten Siebzehn. Und was ich von mir sah – auf der verhängnisvollen Leinwand – mein jugendlich unruhiger Blick, mein verkrampfter Körper, das war es, was mich erschreckte. Die aufsteigenden Erinnerungen daran, wie ich gefühlt und empfunden hatte, lösten sich durch die seit damals verstrichene Zeit nicht in Wohlgefallen auf. Die Fotos zeigten mir nicht, dass ich genau wie alle anderen Achtzehnjährigen gewesen war. Nein, sie zeigten mir, dass ich in der Tat aus der Reihe gefallen war. Als Sonderling. Ich. Die Eigenartige. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in den bereits flauen Magen und das Entsetzen darüber, immer noch Dieselbe zu sein wie in der achten Klasse, breitete sich geschmeidig fließend in mir aus wie verschüttete Tinte auf der Schulbank.
     Inzwischen habe ich mich von der erschütternden Erfahrung des Klassentreffens wieder erholt, aber ich merke, dass es noch einiges zu tun gibt in Sachen Selbstliebe, Selbsterkenntnis, Akzeptanz... Was da alles noch verheddert und verknotet ist. Was noch gelöst und verändert werden will, und was sich wohl als roter Faden bis an mein Lebensende durchziehen wird. Der rote Faden, der mich ausmacht. Was ich bin. Mein Wesen. Ich weiß es nicht. Weniger denn je.
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    Julia Koch

    Schauspielerin.
    Schreibende.
    ​In Wien.
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