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Dear Life. Hello.

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Fünf bis sieben Ticks

2/9/2019

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Die Mutter einer guten Freundin von mir pflegt zu sagen, jeder Mensch habe fünf bis sieben Ticks. Ich fand das immer lustig, habe aber erst in letzter Zeit bewusster meine eigenen Spleens wahrgenommen. Ich frage mich, warum man solche Dinge entwickelt. Die meisten davon sind ja wirklich herzzerreißend unsinnig.

1. Wenn ich auf der Straße unterwegs bin, scannen meine Augen nahezu automatisch die Nummernschilder der Autos und ich errechne im Vorbeigehen die Quersumme.
2. Entdecke ich ein Nummernschild oder eine Hausnummer etc., welche/s die Ziffern meines Geburtsdatums beinhalten, werte ich das als gutes Zeichen, obwohl ich weiß, dass mein Geburtsdatum 60% aller möglichen Ziffern liefert. Ich bin generell fürchterlich abergläubisch, und ich setze meine „Zeichen“ willkürlich. Trotzdem nehme ich sie ernst. Glücklicherweise sehe ich überall gute Zeichen. Nur die Vier hat mich einige Jahre lang verfolgt und mir Angst eingeflößt, bis ich (wie gesagt willkürlich!) beschlossen habe: diese Zeiten sind vorbei - die Vier verliert ihre bedrohliche Bedeutung! Machte das Sudokulösen angenehmer. Seither gibt es in meinem abergläubischen Deutungssystem keine einzige Ziffer oder Zahl mehr, die Düsteres ankündigen könnte. 
3. Somit bin ich also auch etwas verbissen optimistisch. 
4. Ich liebe Einkaufslisten. Mehr als das Einkaufen.
5. In der Küche werden meine Handgriffe von einem Drang nach Effizienz geführt. Ich plane in Sekundenbruchteilen, wann ich den Kühlschrank aufmache, was ich herausnehme, wie die nächste Vierteldrehung zur Besteckschublade stattfinden kann, bevor ich mich bücke um den Topf aus dem unteren Regal zu nehmen, hoch zur Milch, in den Topf, auf den Herd, Milch in Kühlschrank, Kühlschranktür wieder zu, Kurkuma aus der Lade, Reibeisen für Ingwer, am Weg Kokosöl aus Regal und in warme Milch, Ingwer schälen… usw. usf. Dabei passieren mir oft Fehler, weil ich nicht schnell genug in der Umsetzung meiner gefinkelten Schachzüge bin. Es kann also vorkommen, dass zwar alles ganz schnell und geschmeidig läuft, aber am Ende der Wasserhahn ohne ersichtlichen Zweck läuft. Das ärgert mich dann.
6. Ich schiebe es mitunter ein Jahr lang hinaus, die kaputte Leuchtröhre zu ersetzen, weil die doch sicher mehr kostet als eine normale Glühbirne und außerdem nicht einfach beim Spar, sondern nur im Elektrogeschäft erhältlich ist. In derselben Woche kaufe ich eine neue Matratze, die sich „Himmlische Wolke“ nennt - wohlgemerkt natürlich nicht beim Spar! - um deren Kosten ich in etwa siebenhundert Spezialglühbirnen kaufen hätte können. Dieses Prinzip zieht sich als roter Faden durch mein Kaufverhalten. (Zudem ist an der Ecke unten quasi neben dem Spar ein Elektrofachgeschäft.)
7. Entscheidungen zu treffen ist eine Angelegenheit der größten Herausforderung für mich. Ich analysiere, reflektiere, zerlege, selektiere und wäge und wiege immer so genau und so lange ab, bis Vor- und Nachteile vollkommen ausgeglichen sind und Handlung beinahe unmöglich macht.

So. Sieben verrückte Eigenheiten zu finden, war erstaunlich leicht und ging sehr rasch von der Hand. Deswegen höre ich jetzt einfach auf zu schreiben, bevor mir noch mehr davon einfallen. Im Überblick scheinen meine sieben gelisteten Ticks verwandt - alle haben (zumindest unter anderem) irgendwie mit Zahlen zu tun. Mit Rechnen und berechnen. Mit Wert und Bewertung. Mit Einordnen und Zeit. Lauter Dinge die der vermeintlichen Kontrolle (über das Leben) dienlich sein wollen. Somit hab ich mir wohl auch die anfängliche Frage nach dem Warum in etwa beantwortet. Doch nicht ganz unsinnig also, zumindest nicht unbegründet.
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Ein neuer Blick auf meine Welt

2/2/2019

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Mein erster Wintermonat in diesem Jahr war der perfekte Monat, um mich mit Büchern über den Feminismus, die Quantenphilosophie und die Seele, dem Laptop und Freunden in der Wohnung zu verschanzen und die wichtigen Fragen des Lebens zu wälzen. Egal, was mein Ausgangspunkt war, ich landete mit jeder banalen Aufgabenstellung wieder bei existenziellen Fragen. Kennt ihr das? Wenn man einen Blick in den Kühlschrank wirft, kurz hängen bleibt und dann statt der Milch die Frage nach dem Sinn des Lebens mit zum Tisch bringt? (Weil Milch nicht vegan, also unumstrittene Auswirkungen auf unseren Planeten, Klima, Mensch und Tier etc. Und: ist es das wert, brauche ich wirklich Milch im Kaffee?) Ich habe mich im Jänner richtig tief in philosophischen und psychologischen Angelegenheiten vergraben, habe so viel über mich selbst nachgedacht und über den Menschen an sich gelesen, gehört und geredet, bis sich alles aufzulösen schien. Das Netz der vermuteten Realität hat sich gelockert, die einzelnen sogenannten Wahrheiten und Annahmen schweben vorsichtiger durch den Raum als bislang. Sogar meine Träume haben sich verändert. Neuerdings träume ich in Türkisblau und Grün und außerdem von einem struppigen, dunkelgrauen Wildschwein, das mir nicht mehr von der Seite weicht und mein neuer bester Freund ist. (Tja. Wildschwein.)

Im Anschluss fasse ich einen kleinen Ausschnitt eines sehr umfassenden Bereichs zum Thema Realität vereinfacht zusammen, der mir Anstoß gegeben hat, an der Basis zu rütteln.

MANIFESTATION DER EIGENEN WIRKLICHKEIT
Wir beziehen uns auf das, was wir wahrnehmen, als wäre es eine feste, unumstößliche Wirklichkeit. 
Wir haben das Bedürfnis nach Sicherheit und unser Hirn investiert viel darin, uns das Gefühl von Kohärenz und Stimmigkeit zu geben. An sich ist das praktisch, allerdings auch Grund für unsere täglichen Probleme. Wir fühlen uns unter Umständen unvollkommen oder geraten aneinander, weil wir überzeugt sind, unsere Wirklichkeit sei die Realität. Das, was wir wahrnehmen - sehen, hören, ertasten, riechen, schmecken, fühlen - ist unsere Realität. Wir gehen meist davon aus, dass unsere Mitmenschen mehr oder weniger dasselbe wahrnehmen und sind oft überrascht wenn „dieselbe“ Realität anders interpretiert wird. In jedem Augenblick strömen 11.000.000 Bits (Informationseinheiten) auf einen Menschen ein. Schallwellen, Lichtwellen etc. Diese Menge kann unmöglich aufgenommen werden. Deswegen hat das Hirn sogenannte Filter installiert, um auszuwählen was durchgelassen und aufgenommen wird und was nicht. Wir nehmen lediglich zweihundert von elf Millionen(!) Informationen wahr. Also von allen Reizen, die auf uns einwirken, nehmen wir nur 0,002% auf. Das entspricht in etwa einem einzelnen kleinen Punkt auf einem DIN A4 Blatt, den man mit einer Lupe suchen muss.

FILTER
Neben Sinnesorgane hat jeder Mensch drei weitere geistige Filter eingebaut, die benutzt werden, um die interne Wirklichkeitsblase zu konstruieren.
1. SINNESORGANE 
Die ersten Filter sind unsere physischen Sinnesorgane. Wir hören oder sehen beispielsweise nur einen begrenzten Ausschnitt aller Frequenzen. Vgl. z. B. das Hören der Hunde, die Wahrnehmung der Fledermäuse und das Sehen von Insekten etc.
2. LÖSCHEN
Alles was zu viel, unwesentlich oder bedrohlich für die eigene Weltsicht ist, wird ausgeblendet. Wir hören nur, was wir aufnehmen wollen/können. Wir sehen nur, was wir glauben. Alles, was uns überwältigen und das eigene Weltbild in Frage stellen würde, wird tendenziell nicht durch diesen Filter durchgelassen.
3. VERZERREN
Bildhaft gesprochen regulieren wir beispielsweise die Lautstärke von äußeren Reizquellen. Manches drehen wir hoch, manches nieder. Wie verzerren also die Realität.
4. VERALLGEMEINERN
Wenn wir denken „Immer geht alles schief!“ oder „Alle Männer/Frauen sind so…“, „Das geht nicht/tut man nicht/kann man nicht“, „Das ist halt so.“ etc. verallgemeinern wir. So wird immer wieder auf’s Neue zusammengebaut, was wir schon kennen. Folglich kann sich das Hirn beruhigen, denn mögen die eigenen Glaubenssätze (und daher die Wahrnehmung) auch eingeschränkt oder gar neurotisch sein, das Hirn bevorzugt Bekanntes.

AUSWAHLKRITERIEN UNSERER WIRKLICHKEIT
1. KULTURELL-SOZIALE PRÄGUNG
Sprache, Kultur, Mentalität etc. lenken unter anderem was wir wahrnehmen können.
Bsp. Inuit kennen sehr viel mehr verschiedene Schneesorten als andere Kulturen. Wir begnügen uns in etwa mit „Schnee“, „Pulverschnee“ und „Schneegatsch“ und nehmen daher auch die weiteren Unterschiede nicht (bewußt) wahr.
2. ERFAHRUNGEN
Das, was wir (als Kind) zu hören bekommen und erfahren haben, beeinflusst unseren Glauben und die Wahrnehmung von uns selbst und der Welt.
Bsp. Ein Mädchen, das ausschließlich hört, wie hübsch oder nicht hübsch Mädchen sind, lernt den Wert eines Mädchens/einer Frau auf Äußerlichkeiten zu reduzieren.
Bsp. In einem Junge, der „Rabauke“ genannt wird, verfestigt sich das Selbstbild dementsprechend.
3. RETIKULÄRES AKTIVIERUNGSSYSTEM
Ein Teil unseres Gehirns kategorisiert, was für uns wichtig und unwichtig ist.
Bsp. Ein Elternteil, das lesend am Spielplatz sitzt, fährt den Geräuschpegel um sich herum runter, um die Konzentration auf das Lesen richten zu können. Weint jedoch das eigene Kind, registriert das retikuläre Aktivierungssystem die Wichtigkeit dessen und fährt die Wahrnehmung hoch.
Wenn wir aber etwas als Routine wahrnehmen und das retikuläre Aktivierungssystem die Angelegenheit somit als unwichtig einstuft, läßt unsere Aufmerksamkeit und Konzentration darauf nach und der Fokus wandert wo anders hin. Auf diese Weise „verpassen“ wir Teile unseres Lebens. Bsp. Typische Beziehungsfalle

ZUSAMMENFASSUNG
Wir nehmen unsere persönlichen 0,002% der Realität, löschen, verzerren und verallgemeinern nach Gutdünken und bauen daraus die vermeintliche Wirklichkeit. Auf diesem Fundament bauen die meisten Menschen ihre Welt auf - die sogenannte Normalität. Auf diesem Fundament treffen wir unsere wichtigsten Lebensentscheidungen. Auf diesem Fundament urteilen wir. Auf diesem Fundament empfinden wir etwas als Problem. Auf diesem Fundament empfinden wir uns selbst! Welches Problem auch immer wir gerade zu haben scheinen, es ist ein minimaler Anteil der Realität dieser Situation. Was auch immer wir denken, wahrnehmen und was auch immer wir zu sein glauben: selektierte, verzerrte und zurechtgerückte 0,002% der augenblicklichen Realität dieses Ausschnittes!
Man möge das mal wirken lassen.

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Interview mit mir

1/18/2019

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Kurz vor Weihnachten haben mich die drei Ladies von „Schwarz auf Weiß“ kontaktiert und gefragt, ob wir uns auf einen Kaffee treffen. Sie wollten mich in die Reihe der Vorarlbergerinnen aufnehmen, die sie auf ihrem Blog vorstellen. Hoch erfreut und wie immer natürlich auch leicht nervös, habe ich mich also am 22. Dezember in der Früh auf Mamas Fahrrad geschwungen - ich war am Vortag bei meinen Eltern zuhause angekommen - und bin der Kälte wegen dick vermummt ins Dorf geradelt, wo wir uns im Sonnentorcafé im Riedmann trafen, dem Altacher Hotspot, insbesondere an einem Samstag vor Weihnachten. Man ist versucht, an dieser Stelle etwas zu schmunzeln, wenn man weiß, dass der Riedmann unser Dorfgeschäft ist. Der Lebensmittelladen. Aber, wie mir meine Eltern gleich erklärten: da kommen die Leute aus ganz Vorarlberg, um beim Riedmann ihre Feiertagseinkäufe zu machen. Was heißt Vorarlberg?! Aus der Schweiz! Aus Liechtenstein! Von überall her kommen die Leute zum Riedmann! Man unterschätze den Riedmann also nicht.
     Zum ersten Mal befand ich mich nun also auf der anderen Seite des Tisches. Auf der Seite der Befragten. Bisher hatte ich die eine Seite bevorzugt. Bisher hatte ich lieber die Fragen gestellt und neugierig auf Antworten gewartet, immer in der Hoffnung, überrascht zu werden, Dinge zu hören, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Das ist aufregend und auch immer ein wenig stressig, denn man weiß nie, was kommt, wen man kennenlernen wird. Erst an diesem Tag allerdings fand ich heraus, dass die andere Seite noch viel nervenaufreibender ist. Mit jeder Frage, die ich gestellt bekam, redete ich mich weiter in einen Wörterstrudel, der nicht enden zu wollen schien. Irgendwie verlor ich total das Gefühl dafür, was eine angemessene Länge für eine simple Frage war, wie zum Beispiel diejenige über die Häufigkeit angebotener Castings. Ich erzählte eine mittellange Geschichte, wo theoretisch eine Zahl als Antwort genügt hätte. Und erst während es aus mir heraussprudelte, bemerkte ich, dass ich keine Ahnung hatte, wie man am besten von sich erzählt. Was war langweilig? Was war zu intim? Was war unverständlich? Was war zu detailgetreu? Was war angebracht und was überforderte? Wie oft wiederholte ich mich, wie oft sagte ich äh und hmm? In mir ratterte es, während ich sprach. Das Radiomikrofon, das für den zweiten Teil des Interviews auf meinen Mund zeigte, verstärkte meine Aufregung. Schwungvoll rutschten auch ein paar inhaltliche Details über den eben abgedrehten Film mit, die ich dem zukünftigen Fernsehpublikum noch nicht hätte verraten sollen. Ich unterbrach mich erschrocken. Mitten im Satz. Und sagte, ich müsse die letzten paar Sätze revidieren und die Frage nochmal anders beantworten. Die Ladies lachten und ich begann von vorne. Als ich endlich, endlich ausatmete und die Klappe hielt, war ich schweißgebadet.
     Nichtsdestotrotz ist das Ergebnis des Gesprächs ganz wunderbar geworden. Elisabeth, Claudia und Angelika haben schöne Worte für mein Geplauder gefunden und das Ganze vor ein paar Tagen auf ihrem Blog „Schwarz auf Weiß“ online gestellt. Von Herzen danke! 


Auszug aus dem Interview
„(…) Und die Schauspielerei hat mich immer mehr gestärkt.“ Julia Koch erinnert sich daran, dass es ihr in ihrer Anfangszeit tatsächlich leichter gefallen ist, auf der Bühne oder vor der Kamera eine Rolle zu spielen, als im wirklichen Leben voll und ganz sie selbst zu sein. „Sobald ich in einer Rolle war, hatte ich eine Art Berechtigung, einfach das zu sein, was ich in der jeweiligen Rolle sah, was anfangs meist ein Teil meiner selbst war, den ich im realen Leben nicht auszuleben wagte. Oder beispielsweise ein Wesenszug, den ich sozusagen ausprobierte. Die Freiheit auf der Bühne oder vor der Kamera hat mir unglaublich dabei geholfen und hilft mir immer noch, meine eigene Freiheit zu finden.“


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Ich, die Eigenartige

1/9/2019

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Weiß man ja, dass es in jeder Schulklasse einen Sonderling gibt. Wenigstens einen oder eine. Ich hielt mich nicht dafür. Ich glaubte, durch Bestleistung ins System zu passen, wodurch ich mir ein Mindestmaß an Sicherheit erkaufte. Aber ganz angepasst habe ich mich dann doch auch wieder nicht. Ich stritt oft mit den Professorinnen und Professoren, wenn mir etwas ungerecht erschien, ich ließ mir nichts weismachen, was ich nicht verstehen konnte, und kämpfte gegen alles, was mir missfiel. Ein bisschen Hermine. Ich wuchs recht ungemütlich durch meine frühen Jugendjahre, mit roter Brille und widerspenstigem Stil. Mit viel Unsicherheit und viel Unwohlsein. Mit meiner Wut auf ein einengendes System, mit meiner Scheu vor anderen Menschen, mit meinem Gefühl, nicht wie die Anderen zu sein, und vor allem mit der Verzweiflung über meinen eigenen Körper, der immer fülliger wurde und schneller wuchs als mein kindliches Ich. Die stattfindenden Veränderungen überrumpelten mich, und es fehlte mir an Werkzeug und Wissen, damit umzugehen. Ich war mir selbst im Weg. Einzig die Vorstellung davon, eines Tages komplett anders auszusehen, komplett anders zu sein, ließ mich nach vorne blicken, statt nur zu Boden. Mein Spiegelbild habe ich mit Nichtachtung gestraft und kann es rückblickend nicht mehr wirklich ausmachen. Tief in der Erinnerung vergraben. Auch in der Fotokiste. Alle Fotos von damals sind ganz weit unten versteckt und wurden nie mehr angeschaut. Bis vor einigen Tagen – im Beisein all meiner Schulkolleginnen und Schulkollegen: beim Klassentreffen, wo ich auf die gefürchtete Vergangenheit traf, meine eigene Jugend. 
    Mit einem Sektglas in der Hand, umgeben von inzwischen erwachsenen Menschen, die einst neben mir hinter Schulbänken gesessen hatten und dieselben Bücher lesen mussten wie ich, saß ich nun an einem Tisch in der Restaurantkantine eines Sportklubs, wo das Treffen stattfand. Durch eine Glasscheibe konnte man Menschen in sportlich kurzen Hosen beim Tennisspielen beobachten, während man ein Schnitzel aß und auf einer Leinwand alte Fotos und Videoausschnitte gezeigt wurden. Ein Teil in mir wünschte, dass gleich die Hausübungen verkündet und wir mit dem schrillen Klingeln der Schulglocke entlassen werden würden. Mir war flau im Magen. Die Bilder auf der Leinwand riefen all meine jugendlichen Gefühle in mir wach. Einerseits. Und andererseits erschreckten sie mich: alle, wirklich nahezu alle meine Mitschülerinnen und Mitschüler schienen mir exakt Dieselben geblieben zu sein. Ein wenig älter als damals, ja. Die Haare ein bisschen kürzer oder länger, die Kleidung etwas teurer, die Stimmen etwas gesetzter. Aber im Grunde waren sie doch alle genau so wie damals. Nur hatte inzwischen jede und jeder einen Durchschnitt von zwei Kindern zuhause, eine Ehe und ein Haus. Das Familienleben war allerdings nicht das Erschreckende, sondern das zu Erwartende. Das Erschreckende war der Gedanke, dass ich dann wohl oder übel auch immer noch die Gleiche sein musste wie damals mit ungelenken Fünfzehn oder verzweifelten Siebzehn. Und was ich von mir sah – auf der verhängnisvollen Leinwand – mein jugendlich unruhiger Blick, mein verkrampfter Körper, das war es, was mich erschreckte. Die aufsteigenden Erinnerungen daran, wie ich gefühlt und empfunden hatte, lösten sich durch die seit damals verstrichene Zeit nicht in Wohlgefallen auf. Die Fotos zeigten mir nicht, dass ich genau wie alle anderen Achtzehnjährigen gewesen war. Nein, sie zeigten mir, dass ich in der Tat aus der Reihe gefallen war. Als Sonderling. Ich. Die Eigenartige. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in den bereits flauen Magen und das Entsetzen darüber, immer noch Dieselbe zu sein wie in der achten Klasse, breitete sich geschmeidig fließend in mir aus wie verschüttete Tinte auf der Schulbank.
     Inzwischen habe ich mich von der erschütternden Erfahrung des Klassentreffens wieder erholt, aber ich merke, dass es noch einiges zu tun gibt in Sachen Selbstliebe, Selbsterkenntnis, Akzeptanz... Was da alles noch verheddert und verknotet ist. Was noch gelöst und verändert werden will, und was sich wohl als roter Faden bis an mein Lebensende durchziehen wird. Der rote Faden, der mich ausmacht. Was ich bin. Mein Wesen. Ich weiß es nicht. Weniger denn je.
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Brot - selber, selber, selber

1/2/2019

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Ich behaupte ja gerne, in Österreich gibt es das beste Brot. Das einzig wahre, richtige Brot. Klar, Frankreich bietet Baguettes, Croissants und Patisserie-Gebäck wie kein anderes Land, aber Brot, rund, kastenförmig, körnig, würzig, nahrhaft und was zum Beissen, da hat Österreich die Nase vorne. In Wien bekommt man Brot von einigen exzellenten Bäckermeistern aus dem umliegenden Land. Aber in meinen ersten Stadt-Jahren, war es noch gar nicht so einfach, in unmittelbarer Nähe gutes Brot zu kaufen, das meinen Wünschen entsprach. Als auf meine Frage beim Bäcker, ob das gewünschte Brot denn „Vollkorn“ sei, wiederholt geantwortet wurde „Ja, ist Dinkel“, wurde es mir zu bunt und ich zog los, um mir eine Getreidemühle zu kaufen. Ich bin mit dem Geräusch der Getreidemühle groß geworden, und es macht mir einfach mehr Spaß, den ganzen Weizen, Dinkel oder Roggen selbst zu verarbeiten. Die Gewürze mahle ich gleich mit, wenn mir das mit dem Mörser um 06:00 in der Früh zu anstrengend ist. Es muss nicht immer 100% volles Korn sein und auch nicht immer mit so vielen Gewürzen. Eines aber habe ich eben erst entdeckt: das Backen im Topf. Und das muss jetzt immer sein. Ich habe zu Weihnachten den schon so lange ersehnten gusseisernen Topf von Le Creuset bekommen und bin total begeistert. Seither koche, brate, schmore und backe ich alles in diesem Topf. Ich schleppe ihn sogar in meinem Koffer mit, wenn ich den Ort wechsle.
     So kann ich als Meisterin meines eigenen Brotes nun in den Teig mischen, was mir gefällt. Das frische Brot aus dem eigenen Ofen zu holen, der Duft in der ganzen Wohnung, das Gefühl des Triumphs, wenn die Kruste kracht und das Innere des Brotes weich ist - mmmhhhhh - that's the way, uh-huh uh-huh, I like it!
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Liebstes Brotrezept als PDF-Download
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Drei kleine Feiertagsgeschichten

12/31/2018

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Die Mama und die Schwester
Die Schwester überlegt, einen Hängestuhl zu kaufen, weil das Kind so gerne darin schaukelt und sie dann endlich mal durchatmen kann. Aber keiner hört ihr so recht zu. Die Mama sitzt am Ofen und ist in die Zeitung vertieft. Ich hänge über der Rückenlehne des Stuhls - die Nachmittagsjause setzt mir immer besonders zu. Ich kann mich nicht bewegen und möchte unterhalten werden. Erzähl' mir was, Schwester, sag' ich. Aber sie muss auf's Klo. Meine Langeweile liegt nicht in ihrer Verantwortung. Doch, erzähl' mir was. Irgendwas!, ruf ich ihr hinterher. Sie hat kein Erbarmen. Träge Stille hängt über dem Küchentisch. Die Zeitung raschelt. Kevin Spacey hat sich zuletzt mit einem bizarren Video zu Wort gemeldet, erklärt mir die Mama. Ich erfahre weiters, dass Angelina Jolie in die Politik will und die royale Charlotte von ihren royalen Eltern "Poppet" genannt wird. Ich schaffe jeweils ein mattes Mh nach jedem Satz. Es folgt eine Lesung des Fernsehprogramms. Das mit dem Mh wird schwerer. Die Mama ereifert sich, die angebotene Auswahl sagt ihr nicht zu. Immer nur seichte Filme oder irgendwelche Krimiserien. Soooo langweilig! Die Schwester kommt zurück: Wieso? Was würdest du denn gerne sehen? Rosamunde Pilcher? Es wird weiter diskutiert, wobei Ernsthaftigkeit und Sarkasmus nicht mehr zu trennen sind. Alles ist ein träger Brei. Ich muss - immer noch hintüber den Stuhl hinunter hängend - ein wenig lachen, weil wir doch gar keinen Fernseher haben. Am Esstisch sitzen, das ist unser Fernsehen. Die gesamte Familie plus Besuch sitzt feiertags ohne Unterbrechung in der Küche am Esstisch. Sieben lange Tage lang. Ich beschließe aufzustehen und raus Luft schnappen zu gehen. Die Köpfe brauchen Sauerstoff. Obwohl, vielleicht reicht es ja, wenn ich kurz das Küchenfenster aufmache.

Der Neffe
Der zweidreivierteljährige Neffe sitzt mit mir auf der Couch, sein Kopf auf meinem Bauch, meine Hand auf seinem Brustkorb. Ich frage ihn, ob er weiß, was da drin ist. In seinem Brustkorb. Was da klopft. Ein Herz, sagt er trocken. Vom Doktor. Ob ich auch ein Herz will, fragt er. Du gehst zum Doktor, dann sagt der Doktor: Lieg auf den Tisch!, und dann sagst du: Ja! Und dann liegst du auf den Tisch. Und dann hat der Doktor ein Herz für dich.

Der Papa
Ein Bekannter meines Vaters ist zu Besuch. Bei Keksen wird von Geschäften gesprochen, von möglichen. Und auch die Vergangenheit wird ausgegraben - man stammt aus derselben Stadt. Aber obwohl man im selben Jahr geboren wurde, besuchte man nicht dieselbe Kindergartengruppe. Der Papa wurde im Juli geboren, der Bekannte im November. Grade noch ein Skorpion, der letzte. Es hat ihn also überworfen. Trotzdem hat der Bekannte den Papa gekannt, na klar, hat ihn ja gesehen in der Stadt, man wußte schließlich, wer wer war. Mit einem Ohr höre ich zu, während ich ein Sudoku löse. Ich stell mir das so vor: der Bekannte als Vierjähriger an der Hand seiner Mama auf dem Weg zum Bäcker, dreht den Kopf links, dreht ihn rechts und nach hinten, wird nach vorne gezogen, die Beinchen, die aus den Knickerbockerhosen ragen und in kleinen geschnürten Schuhen stecken, stolpern über Kopfsteinpflaster. Mein viereinhalbjähriger Papa schlendert die Marktstraße entlang, reckt den Kopf, um über die Theke des Käsestands blicken zu können, hat ein bisschen Hunger. Im Kindergarten haben die gesagt, er dürfe nicht bleiben. Er müsse nachhause. So sagt er das jedenfalls der Mama, weil der Kindergarten ist scheiße. Aber die Mama muss arbeiten. Alle Leute, die in der Polentavilla wohnen, müssen arbeiten. In der Fabrik, in der man sich die Finger bei den Maschinen, die die Rillen in den Kordstoff machen, abschneidet, wenn man nicht gut aufpasst. Der Kindergartenverweigerer dreht sich vom Käsestand wieder weg. Sein Blick trifft den des Jungen in den Knickerbockerhosen, der ihn anstarrt, während er in Richtung Bäcker gezogen wird. Kurz bleibt der viereinhalbjährige Papa stehen, schaut. Dann verschwindet der unbekannte Junge hinter der Ladentüre. Der kleine Papa spuckt durch seine Zahnlücke und schlurft planlos weiter. Er wird schon noch wen finden, mit dem er gemeinsam um die Häuser ziehen kann. Sind ja nicht alle so blöd und bleiben im Kindergarten.
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Am Set II

12/9/2018

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So ist das: ganz alleine fährt man hin. Geschriebene Sätze im Kopf, die man während der langen Zugfahrt vor sich hin murmelt. Manchmal rutschen ein paar Worte zu laut heraus und Köpfe drehen sich um. Man tut, als hätte man nur geniest und schnäuzt die letzten Worte in ein Taschentuch. Man ist nervös. Ich jedenfalls, ich war nervös. Aufgeregt. Immerhin ist es das, was ich mir so viele Jahre nun schon sehnlichst herbeigewünscht habe - eine Filmrolle. Die Filmrolle. Die meine. Sie ist immer noch nicht sehr groß, aber auch nicht mehr ganz klein. Und vor allem ist sie super. Eine Rolle über die ich mich so freue, dass mein Herz seit Wochen ein bisschen schneller schlägt als gewöhnlich und ich das Klopfen in meinem Hals spüren kann. So als ob mein Herz sich einen Weg durch meinen Mund nach außen bahnen wollte. Jetzt war sie also da, die Ersehnte. Und ich nervös. Kontinuierlich nervöser, je näher ich dem Drehort in den Vorarlberger Bergen kam.
     Am Set wuselten viele Menschen herum, in ihre Arbeit vertieft. Bei meiner ersten Ankunft wußte ich erst mal nicht, wohin mit mir. Da stand ich nun mit meiner Mütze am Kopf, dem Rucksack am Rücken und dem Koffer in der Hand. Es dauerte ein wenig, bis ich mich orientieren konnte, mir merkte, wo was war und wichtiger noch: wer was war. So viele Menschen, so viele neue Gesichter, so viele Positionen beim Film, deren Funktionen und Aufgaben mir immer noch nicht ganz klar waren. Also hielt ich mich an den Regisseur. Name und Funktion waren mir bekannt. Fast wichtiger für mein Setleben aber noch war, dass ich gleich der Set-Aufnahmeleitung in die Arme lief, die Person, die alle meine Fragen beantworten konnte und sich rund um die Uhr nicht nur um mich, sondern auch um alle anderen kümmerte, Informationen verbreitete, für  Ordnung sorgte und den Überblick behielt. So was muss man erst mal rausfinden, wenn man zum ersten Mal an einem Filmset arbeitet, dass die Aufnahmeleitung die Anlaufstelle und Rettung in allen nur erdenklichen Situationen ist. Lernt man ja nicht auf der Schauspielschule. Muss man alles irgendwie Stück für Stück durch Ausprobieren und Beobachten in Erfahrung bringen. Wer ist das, die mit dem Script hinter dem Monitor sitzt und immer mitliest, wer sitzt daneben und drückt Knöpfe, welche Rolle spielt die Regieassistentin, die rechte Hand des Regisseurs, was ist ein Best Boy, wer klebt die Markierungen am Boden, wer gehört zum Ton- und wer zum Lichtdepartment, fällt mein Polizeigurt in die Zuständigkeit des Kostümsquads oder der Requisite, was ist der Unterschied zwischen Szenenbild und Baubühne, was macht der Typ, der auftaucht, wenn nach jemandem vom Grip verlangt wird, und was zum Teufel ist ein Lensbaby? Nach und nach, Tag für Tag, schnappte ich neue Dinge auf und versuchte, mir alles einzuprägen - Funktionen, Namen, Gepflogenheiten und Set-Regeln. Derer gibt es viele. Regeln. Und alle muss man lernen. Ein Filmset ist wie ein Uhrwerk, eine eigene kleine Welt, abgeschottet von der Außenwelt. In diesem Falle, unserem Falle, wurde dieser Zustand noch verstärkt durch den Umstand, dass die gesamte Filmcrew in eben jenem Berghotel untergebracht war, das gleichzeitig auch Schauplatz der Geschichte und Set darstellte. Man konnte in der Früh in Jogginghosen zum Frühstück in den Hotelspeisesaal gehen und anschließend gleich hinter dem Vorhang, der den Speisesaal von der Filmset-Garderobe und dem Maskenbereich trennte, verschwinden. Und wenn man nach Drehschluss fix und fertig war, fuhr einen der Hotellift schnurstracks bis quasi direkt zum eigenen Bett. Oder aber man blieb noch etwas länger in der Lobby sitzen und hörte den Drehschlussbiergesprächen zu, die sich meist bis tief in die Nacht zogen. Die Zeit, die man gemeinsam verbrachte, war sehr intensiv und beinahe jeder war alleine angereist, wie ich. Mit dem Zug, dem Bus, dem Auto. Hatten alle ihre Welten zuhause vor ein paar Wochen verlassen und fanden sich nun gemeinsam an einem abgelegen Ort in den Bergen wieder. Ein Ausnahmezustand, der nahezu zwangsläufig zu neuen Freundschaften führt. Man traf sich verschlafen in aller Herrgottsfrüh am Hotelgang und krächzte Morgen oder nickte nur kurz, man saß gemeinsam am MIttagstisch, man schaute gemeinsam auf die Uhr, wenn der Arbeitstag länger wurde als geplant, unterdrückte ein gemeinsames Gähnen und wanderte dann anschließend trotzdem noch gemeinsam durch die Nacht und schaute sich Sternschnuppen an. Man trank gemeinsam, verlor sich in philosophischen Angelegenheiten oder purer Blödelei. Man erzählte von sich und hörte anderer Leute Lebensgeschichten. Man tauschte Kuchenrezepte, Yogatipps und Lieblingsmusik. Und ganz am Ende, wenn man "abgedreht" war und man sich vor dem Ins-Bett-Gehen noch von allen persönlich verabschiedete, weil man am nächsten Tag als Erste würde aufstehen und abfahren müssen, dann musste man weinen. Weil doch alles so schön gewesen war, so nah, so voll, so rund. Weil man sich so wohl in dieser kleinen Welt gefühlt hatte und nicht wieder raus wollte. Weil man wußte, dass die Wege aller Anwesenden nun wieder in die unterschiedlichsten Richtungen führen würden, wie am Praterstern. Und weil man nicht wußte ob es stimmte, dass man sich im Leben immer zweimal trifft. Man hoffte es. 
     Und so fuhr ich mit einem aufgewühlten Herzen ab, ebenso wie ich gekommen war. 




P.S. Lensbaby
Definitionsauszug laut Wikipedia
Als Gattungsbegriff bezeichnet Lensbaby ursprünglich ein spezielles Objektiv mit einer Brennweite von ca. 50 mm. Es ist darüber hinaus ein Markenname der gleichnamigen Firma Lensbaby Inc.. Ein mit einem Lensbaby-Objektiv aufgenommenes Bild ist nur im Bereich des Schärfepunkts
scharf, rundherum nimmt die Schärfe zunehmend ab. Der Ort der Schärfe kann durch Verbiegen des Objektivs frei gewählt werden.

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Am Set I

11/21/2018

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Die Drehtage meines diesjährigen Highlights haben begonnen. Voll nervöser Freude bin ich in den Zug gestiegen - Rucksack und Tasche, Thermoskanne und Wollmütze. Mein Ziel war auf über 1.700 Metern Seehöhe. Ein Kollege saß im selben Zug ein paar Sitzplätze weiter vorne. Großer Mann. Bärig. Brummige Stimme. Wiener Schmäh, trocken, leicht grantig auf die freundliche Frage des Zugservices, ob man etwas trinken möchte: Na, wenn i ned rauchen darf, brauch i a nix zum Trinken. Wir hatten beide unser Zugticket von der Produktion zugeschickt bekommen, und als der Schaffner das Handyticket des Kollegen unter die Lupe nahm, fragte er mit strenger Miene: Und Sie san die Frau Julia? Des glaub i eher ned! Ich warf den Arm in die Luft wie eine Einser-Schülerin und rief über die Köpfe der anderen Passagiere: Das bin ich. Hallo, ich, das bin ich. Ich zeigte dem Schaffner das ausgedruckte DIN-A4-Blatt und verwies auf die Stelle an der 2 Erwachsene stand. Der brummige Wiener winkte zurück zu mir. Ah, du bist des. Ich hab mir dich viel älter vorgestellt. Der Schaffner nun vollends verwirrt: Sie haben ein gemeinsames Ticket und kennen sich nicht?! Er hatte allerdings keine Geduld, meine vollständige Antwort abzuwarten und verließ uns kopfschüttelnd. Die weitere Zugfahrt verlief unaufregend, die Strecke in den Westen Österreichs kenne ich ja auch schon in- und auswendig. Nur der Wiener nervös. Wegen den Tschick. Bei jeder Haltestelle sprang er für einige Sekunden aus dem Waggon und nahm hektisch zwei, drei Züge seiner angefangenen Zigarette. Zehn Minuten vor dem endgültigen Ausstieg stand er schon mit Sack und Pack und Zigarette neben mir und freute sich wie ein Kleinkind auf das Glöckchen des Christkinds. Auch das Hotel im kühlen Bergdorf ließ er mich alleine betreten, weil er erst noch eine  rauchen musste. Mich fuhr der Lift mit den vielen kleinen Schneemännern, Skifahrern und rodelnden Kindern an den Wänden inzwischen in den 4. Stock, und ich betrat mein Zimmer, in dem ich die nächsten Tage wohnen sollte. Rosarote Streifen an den Wänden, rosarote Rüschen ums Bett, rosarote Couch. Fliesen mit Blümchen und buntem Obst zierten Badezimmer und Klo. Verzückt hüpfte ich durch die Räume. Schließlich hat man nicht jeden Tag gläserne Beistelltischchen neben der Badewanne und goldene Armaturen, auf denen es „Chaud“ und „Froid“ heißt.
     Frühstück mit der ganzen Filmcrew. Dann Maskenzeit, geliebte Maskenzeit. Und Kostüm. Diesmal Polizeiuniform. Früher oder später musste es ja so kommen. Ich war in meinem Schauspielerinnenleben bereits Mordopfer, Verdächtige, Bedrohte, Mörderin, da war es nur eine Frage der Zeit, bis ich Uniform tragen würde. Eine spannende Erfahrung: man fühlt sich gleich wesentlich stabiler und breiter, sobald man die schweren, schwarzen Stiefel trägt und den Gurt um die Hüften gelegt bekommt. Sofort wird einem klar, warum Polizist*innen so oft die Daumen am Gurt vorne mittig einhängen und bedächtigen Schrittes die Straße entlang schlendern. Es macht einfach Sinn. So patrouillierte ich also in den Hotelgängen und wartete auf meinen Einsatz. Pause machte ich, in dem ich mich seitlich mit der Schulter an die Wand lehnte. Auch diese so klischeehaft typische Haltung eine logische Folge des Kostüms, denn die am Gurt hängenden Gerätschaften machen das Hinsetzen kompliziert und lassen nicht zu, dass man sich mit dem Rücken an die Wand lehnt. Und dann endlich: Julia, bitte! Ich war an der Reihe. Meine ersten Szenen begannen mit wenig Text für mich. Einfach also. Sollte man meinen. Es ging nur darum, das ich an eine Tür klopfte, einen Namen rief, forderte, man möge aufmachen, an der richtigen Stelle stehen blieb, den Arm bis zur richtigen Höhe anhob, den anderen Arm bis zu einer anderen Höhe, dann einen Satz, hernach zu einer anderen Markierung am Boden nicht weit weg, nur ein wenig mehr seitlich, sodaß mich die Kamera im Anschnitt sehen konnte und der Kollege Licht bekam, zuhören, reagieren, aber nicht zu viel und vor allem: nicht die Sätze der Kollegen stören. Dann leicht aufdrehen, den zweiten Satz sagen - ja, nein, ein bisschen anders. Mh…, nein, noch ein bisschen anders. Ja, und jetzt ein wenig so wie vorhin und ein bisschen so wie beim ersten Mal und aber auch noch ein bisschen anders. Und die Hand ein wenig höher, in die andere Richtung drehen, zwei Sekunden länger warten vor dem letzten Blick, der… hm… ja, nein, auch ein bisschen anders sein sollte. Aber nicht zu viel anders. Parallel wurden Bildausschnitt, Kamerafahrt, Lichtstimmung und Ton angepaßt, die Nase wurde abgetupft, einzelne Haare aus dem Gesicht gestrichen, der Gurt von hinten zurecht gerückt, das Hemd glatt gestrichen, Requisiten wurden mir in die Hand gedrückt und wieder abgenommen, und die Regieassistenz rief mir nochmal in Erinnerung, was ich alles nicht vergessen sollte, wenn gleich der nächste Take startete. Und bitte! Dass man selbst in einer Szene, in der man quasi nur dabei steht, so viele Dinge verabsäumen und versemmeln kann, ist erstaunlich. Immer nervöser werdend, bemerkte ich mit welcher Leichtigkeit mein erfahrener Kollege in einen gelben Bademantel gehüllt die Hauptrolle füllte und führte. Wie er genau zu wissen schien, was es brauchte und was er dafür tun musste. Ich beobachtete ihn so genau, dass mir am Ende des Drehtages vor Anstrengung die Augen brannten und der Kopf sich drehte. Vollkommen erledigt fiel ich ins rosarote Bett.
     Am nächsten Morgen wachte ich sehr abrupt auf. Kerzengerade saß ich im Bett und verstand schlagartig, was der Regisseur gestern von mir gewollt hatte. Plötzlich waren mir seine Anweisungen klar, und ich mochte am liebsten im Pyjama durch das Hotel rennen und an allen Türen klopfen: Nochmal, nochmal!! Aber leider: was liegt, das pickt. Verfluchter Mist! Was liegt, das pickt! Ich hätte mich ohrfeigen können - wieso hatte ich gestern nicht kapiert?! Das war nun doch wirklich nicht schwer gewesen! Eigentlich. Wie blöd ich mit den Augen gerollt hatte die ganze Zeit! Die Erinnerung an den vorangegangenen Tag ließ mich leicht schwindelig zurück ins Kissen sinken. Verschämt tauchte ich beim nächsten Frühstück auf und nahm mir fest vor, am zweiten Tag alles anders zu machen. Tausend Mal besser.
     Was soll ich sagen - in den folgenden Tagen habe ich unter anderem ohne zu fragen meine Requisiten vom Platz genommen (im Glauben ich sei dafür verantwortlich) und damit Panik im Departement der Ausstattung ausgelöst, habe den schlichten Satzanfang „Was für ein…“ gefühlte hundert Mal hintereinander mit „So ein…“ begonnen, trotz höchster Konzentration darauf, das tunlichst zu unterlassen und den Text gefälligst korrekt zu sprechen, habe zweimal vor laufender Kamera in ein Kopfkissen geprustet vor Lachen und zur Krönung des Ganzen meinem Spielpartner und Regisseur, dem wundervollen Herrn Karl Markovics, in den Finger gebissen. Unglücklicherweise musste ich auch in dieser Situation so lachen, dass sich meine Reue und mein Schuldbewusstsein wohl nicht so direkt übersetzten.
     Trotz all meiner Fauxpas und meiner Unsicherheiten war ich durchgehend nahezu hysterisch glücklich. Als ich in meine drehfreie Zeit starten und abreisen musste, hätte ich fast geweint. Einzig der Gedanke, in ein paar Tagen wieder am Set stehen zu dürfen, hielt mich bei Laune. Und so schreibe ich nun aus Wien einen Zwischenbericht und beteuere nochmal meinen Vorsatz, mindestens tausend Mal cooler in die nächste Runde zu starten. Morgen geht’s wieder los. Ich klopfe auf Holz und freue mich auf die folgende Geschichte die das Leben schreibt.
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Happy Singles' Day?

11/11/2018

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Ein Werbemail hat mir heute einen happy Singles’ Day gewünscht. Erst war ich etwas irritiert - erkennt man an meinem Kaufverhalten, dass ich nicht in einer Partnerschaft lebe? Kaufe ich zu viel Schokolade? Bettwäsche in einfacher Ausführung? Katzenstreu? Aber nein, der Singles’ Day wurde vermutlich einfach wie auch der Valentinstag zur Anregung des Kaufverhaltens ganz im Allgemeinen eingeführt. Damit nicht nur glückliche Paarhälften, sondern auch glückliche alleinstehende Personen ihr Glück in Form von Münzen und Scheinen mit der Wirtschaft teilen können. Nicht ganz sicher, ob ich mein Singledasein feiern möchte, hab ich das irritierende Mail gelöscht und einige Augenblicke ein bisschen böse auf den Bildschirm gestarrt. Ich musste nachdenken. Die Zweisamkeit feiert man gemeinhin gerne. Nicht nur am 14. Februar, sondern auch am Tag der Hochzeit und dessen Wiederkehr in den darauffolgenden Jahren.  Ebenso wird gerne der Tag des ersten Treffens, des ersten Kusses, der ersten Nacht oder sonst etwas Erstem hervorgehoben. Es gibt ein Lied, zu dem man das erste Mal getanzt hat, ein Getränk das den ersten gemeinsamen Rausch begleitet hat, eine auf einer Serviette skizzierte Zeichnung von ihm, die sie gemacht hat, als sie ihn das erste Mal gesehen hat. Und es gibt ein Lokal, in dem man Hausverbot hat, weil man das Waschbecken am Klo gemeinsam demoliert hat. Nicht absichtlich natürlich. All diese Erinnerungen werden in Bildern an den Wänden der gemeinsamen Wohnung und in Form von Bierdeckeln, Lippenstiften, Briefen und Postkarten, Parfums und getrockneten Rosen in einer Schuhschachtel unterm Bett aufbewahrt. Gästen, die sich die Fotos an den Wänden anschauen, wird dann vom ersten gemeinsam Urlaub erzählt, in dem man sich nur gestritten hat, und erst am letzten Tag versöhnen wollte. Oder wie man hier auf dem nebeligen Foto - zwei düster dreinblickende Gesichter mit dicken Mützen und hochgezogenen Schals - die Golden Gate Bridge besucht aber nicht gesehen hat. Diese und viele weitere Anekdoten ruft man sich dann in Erinnerung, wenn man an einem auserkorenen Jahrestag im Lokal mit dem inzwischen erneuerten Waschbecken sitzt und einen White Russian trinkt, obwohl man den nach all den Jahren eigentlich nicht mehr wirklich mag. Aber die Süße des Getränks gehört zum Ritual, das die Anfänge der Beziehung würdigt, wie die roten Herzen zum Valentinstag. Und ich? Ich kaufe mir meine Blumen halt selber. Und was hänge ich mir an die Wände: mich? Meinen Kater Elvis? Ja, denk ich. Ja. Was denn sonst? Mein Leben eben. Im Nebel vor der Golden Gate Bridge stehe ich mit meiner Freundin Nina. In den Bilderrahmen daneben Kinderzeichnungen von meinen Babysitterkindern, Fotos von meinen Geschwistern, Postkarten aus Paris, Virginia, vom Meer und aus dem Schnee, Glückwünsche zum Geburtstag und zu Premieren. Ich schaue mich um und sehe im Scherenschnitt aus Mexiko meine Eltern, in den Kinotickets an der Pinnwand Nächte, die ich lachend und blödelnd mit einem vergangenen Freund verbracht habe, und der Teppich am Boden ist ein Stück Vorarlberg, das ich einst mit nach Wien brachte.  Mein Blick wandert über das Gewürzregal, in dem Gewürze aus Australien und vom Naschmarkt stehen, die Bücher am Couchtisch geliehen, der Kissenüberzug ein Mitbringsel aus Marokko und den Wohnzimmersessel habe ich mit Vitus gemeinsam in der U-Bahn nach Hause geschleppt. Alles erinnert mich an etwas, alles hat Bedeutung, alles erzählt mir eine kleine Geschichte. Und alle kleinen Geschichten zusammen ergeben ein buntes Bild, ein schönes Bild, das Bild meines Lebens. Also ja, der Singles’ Day hat zumindest so viel Berechtigung gefeiert zu werden wie der Valentinstag, denk ich mir, während ich inzwischen mit der Zahnbürste vor dem Badezimmerspiegel stehe. Ich hüpfe ins Bett mit nur einem Bettwäscheset. Halb voll, sage ich laut vor mich hin. Ich strecke alle Viere in einem großen X von mir. Halb voll ist manchmal sogar ganz voll.
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Haare hin, Haare her

10/28/2018

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Unlängst beim Friseur. (Endlich doch.) Zwei Frauen sitzen hinter der Spiegelwand, die den Raum in der Mitte teilt, die Köpfe mit Handtuchturbanen bedeckt, die Gesichter hinter Frauenmagazinen versteckt. Eine junge, rundliche Frau mit dunkel geschminkten Augen und punkig pinken Strähnen in den Haaren kehrt den Boden. Hallo. Die Stimme hoch und sanft überrascht mich. Der Andi wird gleich bei mir sein. Aha. Alles still bis auf den Besen, der weich wie die Stimme der Friseurin über den Boden fegt und abgeschnittene Haare einfängt. Der Andi hat blondierte Haare mit einem dunklen Ansatz. Ich kann nicht einordnen, ob das modern oder nachlässig ist. Da er um einige Jahre jünger zu sein scheint als ich, tippe ich allerdings auf ersteres. Der Andi grinst breit und befördert mich mit einer schwungvollen Begrüßung auf den Lederstuhl gegenüber der beiden bereits sitzenden Damen auf der anderen Seite der Spiegelwand. Ich bin nervös. Immer beim Friseur. Viel schlimmer als Zahnarzt. Viel. Man weiß nie, wie die Welt hinterher aussehen wird. Schon als Andi nur zur Bürste greift, zucke ich zusammen. Vor der Bürste fürchte ich mich fast mehr als vor der Schere. Ich bin nicht schmerzempfindlich, aber jedes Mal, wenn mir jemand die Haare kämmt, habe ich Angst, es werden mir zu viele davon ausgerissen. Also wiege ich den Kopf mit den Bewegungen der Bürste mit, um den Zug auf die Haarwurzeln vermeintlich zu verringern. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass trotzdem viele Haare in der Bürste zurückgeblieben sind. Den Andi kümmert das nicht. Während er mir den Kopf einschäumt, erzählt er mir fröhlich von seiner Oma im Waldviertel, mit der er unlängst gestritten hat. Es ist halt nicht immer einfach als Zwilling mit einer Skorpionoma. Das verstehe ich. Ansonsten sind die Beiden aber so, und er kreuzt Zeige- und Mittelfinger, an denen der Schaum herabrinnt. Ich will keinen Conditioner im Haar. Weil ich später noch Haare färben werde zuhause. Und da darf kein Contitioner im Haar sein. Der Andi akzeptiert das. Er muss mich halt dann nochmal kämmen nach dem Waschen und mir noch mehr Haare ausreißen, weil ohne Conditioner sind die Haare wirr. Ich mache einfach die Augen zu, bis mein Kopf wieder still steht und der Andi flötet: Sodala. Was machen wir denn heute? Seit Jahren will ich nun schon Stirnfransen, war aber immer zu ängstlich, um das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Regelmäßig stehe ich vor dem Badezimmerspiegel zuhause, nehme die vordere Haarpartie hoch und drücke mir die Haarenden wie einen großen Pinsel auf die Stirn. Dann kneife ich die Augen leicht zusammen - so kann ich mich der Illusion besser hingeben - zupfe ein bisschen herum, drehe den Kopf links und rechts und lasse die Haare dann ganz plötzlich wieder fallen und schiebe sie wie gewohnt zur Seite, um den Unterschied beurteilen zu können. Jedes Mal gefalle ich mir mit den langen, gewohnten Haaren besser. Aber ich sage mir, dieses Pinselponymanöver ist mit Sicherheit nicht das, was ein echter Pony sein würde. So kann man das doch nicht erkennen. So ein ausgefranster Pinsel ist ja kein Haarschnitt. Und dann halte ich mir das Haarbüschel nochmal hoch und kneife die Augen noch etwas fester zusammen. Das muss doch einfach gut aussehen! Bei der Frau auf dem Unterwäschewerbungsplakat von Skiny sieht das auch super aus. Der Andi fragt nochmal, was wir denn heute machen. Ich blicke ihm im Spiegel besorgt entgegen, beiße mir auf die Unterlippe und sage dann verzagt: Ich weiß es nicht. Die Frauenzeitschriften mir gegenüber werden etwas gesenkt und gehobene Augenbrauen schieben sich synchron über den Rand des Lesematerials. Kritische Blicke treffen mich durch den Spalt in der Spiegelwand. Ich drehe mich also zum Andi um und erkläre ihm direkt, um welches Bild meine Vorstellungen kreisen. Ich habe nämlich eines mit. Ein Bild. Ich weiß natürlich, dass ich ihm damit keine Freude mache mit meinem Bild von Kate Moss und der Bitte: So will ich ausschauen. Solche Bilder sind der Todfeind der Friseure. Gegen solche Bilder haben sie keine Chance. Wenn jemand so ein Bild mitbringt, haben sie schon verloren, noch bevor sie angefangen haben. Das weiß ich natürlich. Bin ja nicht blöd. Also verpacke ich die Bildzeigeaktion in eine Begleiterklärung, die ich so hastig aufsage wie die Sprecherinnen der Apotheken- und Arzneiwerbungen ihr G’satzl. Ich wisse eh, dass ich nicht so aussehe wie die Frau am Bild, aber sie habe eben auch eher dünne Haare vorne, also habe ich mir gedacht, vielleicht würde das bei mir dann ähnlich wirken? Der Andi zieht die Luft durch die Nase ein und hält sie kurz an. Er schaut unbewegt auf das Bild von der blonden Frau mit den langen, glatten Haaren. Dann sieht er mich an, legt den Kopf etwas schief, kneift die Augen zusammen, wie ich das vor dem Badezimmerspiegel immer mache, und sagt, er könne sich das schon vorstellen. Aber am Ende des Satzes steht ein Fragezeichen. Ich kann mir das schon vorstellen? Die Stimme geht hoch, die Augen werden noch schmaler. Als trainierte Schauspielerin erkenne ich die Anzeichen natürlich sofort: der Andi kann sich das nicht vorstellen, dass ich jemals so aussehen werde wie die Frau am Bild. Große, große Skepsis. Vermutlich meint der Andi, Stirnfransen sind das Letzte was wir heute machen sollten. Vermutlich meint der Andi, bei mir und meinen Haaren ist überhaupt Hopfen und Malz verloren. Aber der Andi erkennt die flehende Verzweiflung in meinen Augen und sagt nochmal: Oh ja, ich kann mir das schon vorstellen! Diesmal mit Rufzeichen. Die Skepsis nun in meinem Gesicht drehe ich mich zurück zum Spiegel und starre mich an. Jetzt nimmt der Andi einen Haarbüschel von meinem Hinterkopf (Aha, von hinten also!) und hält mir einen etwas geordneteren und frisierteren Pinsel vor die Stirn. So verharren wir beide einige Sekunden, beide die Augen halb zugekniffen, wie ein Standbild im Spiegel. Na?, fragt der Andi dann. Ich sage immer noch nichts. Starre weiter. Da beschließt der Andi, mir ein paar Minuten zu geben. Ich solle ihn rufen, wenn wir wissen, was wir heute machen. Die Frauenzeitschriften von gegenüber werden geräuschvoll umgeblättert. Dahinter jetzt nur die Turbane sichtbar und lange, lackierte Fingernägel. Ich kaue mir fast die Unterlippe wund. Der Andi kommt zurück. Er hat nicht so lange warten können, bis ich ihn rufe. Machen wir das!, sagt er. Ich glaub, das wird gut!, sagt er. Die wachsen ja eh wieder nach!, sagt er. Ich gebe ihm recht. Dann sagt der junge Andi noch, man wird im Alter wahrscheinlich immer weniger mutig. In jüngeren Jahren nehme man sich solche Entscheidungen nicht so zu Herzen. Etwas erschüttert pflichte ich ihm bei und trotzdem, noch kleinlauter nun: Beim nächsten Mal dann, Andi, ok? Heute bitte doch nur nachschneiden. Na gut, dem Andi ist es wurscht. Er macht mir das gerne so wie ich das will. Und wie wäre das denn bitte? Wie viel sollen wir den nachschneiden? Stufen oder keine Stufen? Stumpf geschnitten? Vorne etwas länger oder doch gerade rum? Wie in Zeitlupe hebe ich die Schultern und lasse sie resigniert wieder fallen. Dass selbst beim Nur-Nachschneiden so gravierende Entscheidungen zu treffen sein würden, war mir nicht klar gewesen. Nun kann ich die Verzweiflung auch in Andis Augen lesen. Mit kleinen Tränen in den Augen flüstere ich: Mach einfach wie du meinst. Die Turbandamen rollen nun hinter ihren Schutzschilden mit den Augen, ich kann das spüren. Aber der Andi läßt sich das nicht zweimal sagen. Schnell greift er zur Schere und legt los. Was ich an Zeit bisher vertrödelt hab, holt er beim Schneiden wieder rein. Keine Hemmungen hat er da, der Andi. Nie hab ich einen Friseur so schnell schneiden gesehen. Zack zack, Haare ab. Zack Zack, Stufen rein. Hände, Schere, Kamm, wuscheln, Kamm, Schere, fertig. Fönen werde ich mich zuhause. Das will ich dem armen Andi nicht auch noch zumuten. Er hilft mir noch in die Jacke und ringt mir ein Versprechen ab: wenn ich mich denn dann doch endlich für die Stirnfransen entscheide, dann darf aber er das machen, der Andi aus dem Waldviertel. Ich hebe die Hand zu einem Salut an die Stirn und deute damit die Ponylänge an, bevor ich mit nassen Haaren den Friseursalon verlasse, erleichtert darüber, alles heil überstanden zu haben. Die Welt sieht aus wie immer. Ich sehe aus wie immer. Nichts hat sich verändert. Und dieses Mal ist mir das recht. Man wird halt älter.
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    Julia Koch

    Schauspielerin.
    Schreibende.
    ​In Wien.
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