L.
  • Blog
  • Prolog
  • Index

Dear Life. Hello.

Picture
Picture
Picture
Picture

Sonntags in der 1er-Bim

4/8/2018

0 Comments

 
Picture
An der Haltestelle wartet bereits eine Familie. Mutter mit drei Mädchen. Zwei davon etwa im gleichen Alter. Auch gleich groß. Die gleichen dichten, dunklen Haare. Zwillinge vielleicht. Sie tragen beide Doc Martens mit pinken Schuhbändern und kleinen metallenen Kettchen an den Seiten. Die Eine holt sich die Gratiszeitung aus dem Zeitungsständer, lehnt sich an den Haltestellenpfosten und beginnt zu blättern wie eine Mini-Erwachsene. Die Kleinste sitzt noch im Kinderwagen und bohrt friedlich in der Nase. Die Badner Bahn kommt, und die Familie steigt ein. Ich warte auf die 1er-Bim. Ich will in den Prater.
     Ich hebe die Sonntagszeitung vom Sitz, auf den ich mich setzen möchte, und lese lustlos Überschriften. Herzogin Kate geht selbst einkaufen, und mein Horoskop deutet an, dass kommende Woche trotz rückläufigem Mars wohl alles gut für mich gehen wird. Unlängst habe ich zwar erfahren, dass Horoskope heutzutage in den meisten Fällen von Computern geschrieben werden, aber ich halte stur an guten Zeichen fest. Wenn ich in den ersten paar Worten eine negative Vorhersage wittere, lese ich einfach nicht weiter. So kann mir nie was passieren. Der kleine Bildschirm in der Straßenbahn informiert darüber, dass das Zwergkaninchen Cathy ein liebevolles, neues Zuhause sucht. Cathys linkes Ohr zeigt nach oben, das rechte hängt wie das Schlappohr eines Beagles nach unten. Das sieht so traurig aus, dass ich mir sicher bin, Cathy wird sofort adoptiert werden. Ich mache mir keine Sorgen um sie. Ich schaue aus dem Fenster. Ein Hipster-Papa beugt sich über einen Retro-Kinderwagen aus weinrotem Samt, und eine runde Frau sitzt schwer auf einem Bankerl am Straßenrand, zwei violette Spazierstöcke in den müden Händen, als würde sie jetzt und dann wieder aufspringen. Eine junge Frau hat eine Laufmasche, von der Ferse bis unter den kurzen Rock. Französische Touristen steigen ein und umringen mich. Drei junge Männer, drei junge Frauen, eine davon so schön, dass ich immer wieder hinschauen muss und mir wünschte, ebenfalls rote, lange Haare zu haben. Zwei alte Herren stehen auf, um einem noch älteren Herren mit Gehstock Platz zu machen. Der Älteste setzt sich umständlich und verzieht dabei das Gesicht. Dann rückt er sich die schwarze Haube zurecht, die nun allerdings immer noch nicht die Ohren bedeckt. Ich muss an ein Buch denken. „Der Alte“, nein „Der Kalte“. „Der Kalte“ heißt das Buch, das Einblick in die Welt eines alten Herren gibt. So habe ich mir den vorgestellt beim Lesen, so wie diesen Mann im langen dunklen Mantel hier. Mit schwarzer Haube und schmerzverzerrtem Gesicht, wenn ein Blitz durch seinen Kopf zuckt. Der Alte in der Straßenbahn fährt wieder mit den Händen an den Kopf, die Finger unter die Haube. Dann schiebt er sie nochmal zurecht, und ich wünschte, ich könnte einen Blick darunter werfen – unter die Haube, in den Kopf, in das Leben dieses Mannes. Vielleicht hat er Ähnliches erlebt wie der „Kalte“, wie einer seiner Zeitgenossen. Vielleicht auch ganz was anderes. Nur was? Mozart geht vor dem Burggartentor unschlüssig ein paar Schritte in die eine und ein paar Schritte in die andere Richtung, die Augen tasten Passanten ab und prüfen diese auf ihre Bereitschaft, Konzertkarten zu kaufen. Daneben dreht sich eine der Kardashians in weißer Unterwäsche auf der bewegten Litfaßsäule. Sie trägt Calvin Klein. Mozart eine Perücke. Folglich sinniere ich über Logik und Absurdität des Phänomens Mode, bis der Mann auf dem Sitz vor mir, dessen Jacke behauptet, er käme aus der Steiermark, seiner Frau in fachmännischer Manier erklärt, dass hier am "Ring" in einer Woche bereits alles grün sein wird. Die Ehefrau hat Zweifel und klopft ungeduldig mit ihrem Ring, der eine Uhr(!) ist – ich seh’s aus den Augenwinkeln, auf das Geländer vor ihr, während sie die Mutmaßungen ihres Gatten in Schranken weist. Ich hoffe trotzdem, er behält Recht. Ich brauche endlich wieder Grün. Und Sonne. Prater. Prater. Ich vermisse ihn so, den Prater. Ich habe ein paar Studentenjahre lang im Rabenhof gewohnt, vom Prater nur wenige Gehminuten entfernt. Mindestens jeden zweiten Tag habe ich eine Runde dort gedreht, in Turnschuhen und mit Ohrknopf Headphones, die mir beim Laufen immer aus den Ohren gefallen sind. Es ist mir ein Rätsel, wie so was in anderer Leute Ohren immer hält. Vor dem Fenster jetzt die Urania. Von hier sehe ich schon das Riesenrad.  Einmal bin ich damit gefahren, mit einem Exfreund, einem Amerikaner, dem ich Wien zeigen wollte. Aber es war nicht so das Wahre, diese Riesenradrundfahrt. Und auch nicht der Amerikaner. Eine ältere Dame in beigem Kostüm und brauner Spitze unterm Rock hält mir ihre zitternde Hand hin. Roter Nagellack umklammert ein Streifenticket, das ich entnehme und in den Entwerter stecke. Sie dankt mir und hält sich mit beiden Händen an der Stange neben dem Ausstieg fest. Die Beine wackeln. Sie will sich nicht setzen, sie steigt die Nächste schon wieder aus. Eine kleine Braut spaziert vorbei. Sie hält den Tüll über dem Rock mit beiden Händen etwas von sich entfernt, um ihn im Wind flattern und fliegen zu lassen. Eine kleine Braut. Sehr klein. Ein Kind. Erstkommunion, aha. Ich hätte zu meiner Erstkommunion auch gerne wie eine in Tüll gehüllte Braut ausgesehen, aber ich trug das schlichte Baumwollkleidchen, dass mir meine Mama so sorgfältig genäht hatte. Die freundliche Stimme aus dem Lautsprecher lässt mich aus Erinnerungen an den damaligen Festtag hochfahren und teilt mir mit, dass wir am Ziel sind und ich bitte aussteigen soll. Endstation Prater Hauptallee.
     Bald wird eine U-Bahn von meinem Grätzel direkt zum Praterstern fahren. Die überall angekündigte U5. Dann werde ich wohl nicht mehr so oft in der 1er-Bim sitzen. Schade eigentlich.
​
0 Comments



Leave a Reply.

    Julia Koch

    Schauspielerin.
    Schreibende.
    ​In Wien.
    ​

    RSS Feed

Proudly powered by Weebly
  • Blog
  • Prolog
  • Index