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Dear Life. Hello.

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Varianten meines Lebens

9/20/2019

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Wie wäre mein Leben, wenn alles anders wäre? Das ist die Frage, die irgendwo ganz hinten in meinem Kopf, hinter all dem Alltagskram, herumspukt. Da hinten zieht sie ihre Runden, leise wie eine Nebelschwade. Wie wäre es, wenn ich meine Vorstellungen vom Leben, von meinem Leben, loslassen würde? Wie wäre ich ohne die gewohnten Bilder im Kopf? Ich stelle mir vor, ich könnte den Wunsch der Fünfjährigen, die ich einmal war, die ihrer Puppe Lisa die Haare geschnitten hat und auf die Frage, was sie einmal werden wolle, antworte: „Mama!“, ich stelle mir vor, ich könnte diesen Wunsch aufgegeben. Ich stelle mir vor, das Bedürfnis, Schauspielerin zu sein, das in etwa ebenso alt ist wie der Mutterwunsch, wäre ablegbar. Ich stelle mir vor, die Schule, durch die ich wie jedes andere Kind in unserem Land geschleust wurde, hätte mich weniger beeinflusst. Ich stelle mir vor, ich wäre groß und stark genug, um mir tatsächlich keine Gedanken darüber zu machen, was mein Umfeld über mich denkt, und ich fühlte mich weniger abhängig von Lob und Kritik, Zuckerbrot und Peitsche der Gesellschaft, deren Teil ich bin. Ich stelle mir vor, Ängste und Unsicherheiten könnten á la „Danke, aber nein danke, brauch ich nicht.“ zurückgelassen werden. Ich stelle mir vor, meine Normalität, das Leben, mit dem ich aufgewachsen bin, das mir meine Eltern, meine Großeltern, meine Lehrer und Lehrerinnen, meine Nachbarn, und Freundinnen, die Dorfbewohnerinnen und der Bürgermeister vorgelebt haben, zerstäube in Millionen kleine Funken und gäbe den Blick auf eine weiße Fläche frei. Eine weiße Fläche in meinem Kopf, auf der nicht geschrieben steht, wie alt man sein muss, um etwas schon zu dürfen oder noch zu können. Eine reine weiße Fläche, die unendlich viele Möglichkeiten birgt. Es ist noch nicht gezeichnet, was ich brauche, um glücklich zu sein. Niemand hat bereits skizziert, was Erfolg, was Schönheit, was Zeit, was Sinn ist. 
     Vielleicht ginge das so: Ich würde stehen bleiben. Hier. Jetzt sofort. Mich mit geschlossenen Augen umschauen, erkennen, wo ich stehe und sagen: Aha. Einfach nur: Aha. Und dann würde ich sie wie Luftballons steigen lassen, meine Pläne, meine Listen, meine Kindheitswünsche, meine Jugendträume, meine Erwartungen ans Leben. Weg, weg, weeeeeg allesamt. Und ich würde mir was Neues überlegen. Was komplett Neues. Nach Alaska auswandern? Als Lonesome Wolf durch die Wälder? Oder der Sonne entgegen? Irgendwo am Meer grade mal soviel verdienen, dass ich täglich meinen frischen Fisch und ein bisschen Gemüse essen kann? Den ganzen Tag barfuß unterwegs? Ins Kloster? Oder ins Waldviertel ziehen und Selbstversorgerin werden? Die schmeißen einem den Boden ja quasi hinterher, die Waldviertler. In Gegenden kostet das sieben Euro pro unverbautem Quadratmeter. Aber nein, will ich nicht. Keinen Quadratmeter und auch nicht täglich Meeresfisch oder Gebete. Als sagen wir so: ich überlege mir teilweise was Neues. Reisen vielleicht – das ist etwas, wovon ich mich bisher zu oft abgehalten habe. Aus guten Gründen natürlich. (Ich bin ja nicht blöd.) In der neuen Variante meines Lebens würden einige dieser guten Gründe wegfallen. Ich müsste mir allerdings erst einen neuen Beruf suchen, der meine Weltentdeckungsreise finanzierte. Etwas Verlässlicheres als die Schauspielerei. Kindermädchen zum Beispiel. Das habe ich drauf. Da könnte ich Karriere machen. Ich brauchte ja keinen Reichtum, keine Extravaganzen. Eigene Kinder auch nicht unbedingt. Die sind teuer. Da könnte ich sparen. Auch an Verantwortung. Flexibel wär ich dann. Ich müsste eben günstig um die Erde ziehen. Keine Luxusreisen. Kein Blingbling. Dreckiger würde es sein. Aber ist es nicht ohnehin das, was das Weltentdecken wirklich ausmacht - der Dreck? Die Straßen, das echte Land, die echten Menschen mit dem echten Leben? So höre ich jedenfalls. Ein Zuhause, in das ich von meinen Reisen dann wieder zurückkehren kann, wünsche ich mir aber auch. Also müsste ich ein wenig mehr verdienen. Vielleicht also doch nicht unbedingt Kindermädchen. Ein spätes Architekturstudium? Bäckermeisterin? Ein Catering-Service? Berufslaufbahn nochmal ganz von vorne anfangen? Stellt sich halt die Frage, ob sich dieser neue Weg als angenehmer und lukrativer entpuppte als der momentane. 
     Aber gut, erstmal geht es ja nur darum, dass ich nicht mehr muss. Nicht mehr glaube, zu müssen, was ich bisher glaubte, zu müssen. Ich muss nicht Schauspielerin sein, muss nicht Karriere machen, ich muss nicht ein Haus am Land und eine unbezahlbare Traumwohnung in der Stadt haben, muss nicht Mutter sein, muss keine Beziehung führen, muss keine Familie gründen. Ich kann auch.... alleine?? Mit Katze? Ewiges Kindermädchen? Gelegentlich Rucksacktrampen?? Doof ist das. So stell ich mir die neue Variante meines Lebens nicht vor. Ich versuche das gleich nochmal: doch mehr verändern, um was zu verändern. Doch ganz ausbrechen aus dem alten Leben. Afrika vielleicht. Als SOS-Kinderdorf-Mutter hätte ich gleichzeitig Beruf, Kinder und Familie in meinem Leben. Zwar nicht im klassischen Sinne, aber eben doch. Gemeinsam. Sinnvoll. Ich könnte dick werden. Richtig dick. Die Kinder würden das sicher mögen. Und ich würde kochen und backen wie Tante Fanny oder die Fini. Es gäbe nun allerdings auch wieder viele liebe Gründe, nicht zu reisen. Nicht mal ins Waldviertel. Und Afrika - gibt es da auch Weihnachten mit Lebkuchenbacken? Die will ich nämlich nicht aufgeben, die Lebkuchen, und auch nicht mein Zuhause mit meinen Freunden und Familie. Also: näh. Oder so: Ich suche mir einen blöden, blöden Job, den ich gar nicht haben will, hör auf zu jammern und arbeite endlich ordentlich, um genug zu verdienen und ein Kind adoptieren zu können. Dann habe ich meine kleine Familie. Eine Zweier-Familie halt. Drei mit Katze. Die muss sich dann halt um das Kind kümmern, die Katze, wenn ich arbeiten gehe. 
     Ich muss sagen, ich sehe das noch nicht so richtig vor mir, das andere Leben. Ich bemühe mich morgen nochmal darum. Oder übermorgen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, die Nebelschwaden im Hinterkopf haben sich gerade aufgelöst. Ich bleibe da.
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    Julia Koch

    Schauspielerin.
    Schreibende.
    ​In Wien.
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